Das 9. Türchen

Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern, Hans Chris­ti­an Andersen

Es war ganz grau­sam kalt; es schnei­te und es begann dunk­ler Abend zu wer­den; es war auch der letz­te Abend im Jah­re, Sil­ves­ter­abend. In die­ser Käl­te und in die­sem Dun­kel ging auf der Stra­ße ein klei­nes, armes Mäd­chen mit blo­ßem Kopf und nack­ten Füßen. Ja, sie hat­te ja frei­lich Pan­tof­feln ange­habt, als sie von zu Hau­se weg­ging, aber was konn­te das hel­fen! Es waren sehr gro­ße Pan­tof­feln, ihre Mut­ter hat­te sie zuletzt benützt, so groß waren sie, und die ver­lor die Klei­ne, als sie über die Stra­ße eil­te, weil zwei Wagen so schreck­lich schnell vor­bei­fuh­ren. Der eine Pan­tof­fel war nicht zu fin­den, und mit dem andern lief ein Jun­ge davon; er sag­te, daß er ihn als Wie­ge benüt­zen kön­ne, wenn er selbst Kin­der bekomme.

Da ging nun das klei­ne Mäd­chen auf den klei­nen, nack­ten Füßen, die rot und blau vor Käl­te waren; in einer alten Schür­ze trug sie eine Men­ge Schwe­fel­höl­zer, und mit einem Bund in der Hand ging sie dahin. Kei­ner hat­te ihr wäh­rend des gan­zen Tages etwas abge­kauft, kei­ner ihr einen klei­nen Schil­ling gege­ben; hung­rig und ver­fro­ren ging sie dahin und sah so ver­schüch­tert aus, das arme klei­ne Wurm! Die Schnee­flo­cken fie­len in ihre lan­gen, blon­den Haa­re, die sich so schön um den Nacken lock­ten; – aber an die Pracht dach­te sie frei­lich nicht. Aus allen Fens­tern leuch­te­ten Lich­te, und dann roch es da in der Stra­ße so herr­lich nach Gän­se­bra­ten; es war ja Neu­jahrs­abend, – ja, dar­an dach­te sie.

Hin­ten in einer Ecke zwi­schen zwei Häu­sern, das eine sprang ein wenig mehr in die Stra­ße vor als das ande­re, da setz­te sie sich hin und kau­er­te sich zusam­men. Die klei­nen Bei­ne hat­te sie hin­auf­ge­zo­gen unter sich, aber sie fror noch mehr und heim­ge­hen durf­te sie nicht, sie hat­te ja kei­ne Schwe­fel­höl­zer ver­kauft, kei­nen ein­zi­gen Schil­ling bekom­men, ihr Vater wür­de sie schla­gen. Und kalt war es auch daheim, sie hat­ten nur gra­de das Dach über sich, und da pfiff der Wind her­ein, obschon Stroh und Lum­pen in die größ­ten Spal­ten gestopft waren. Ihre klei­nen Hän­de waren bei­na­he ganz tot vor Käl­te. Ach, ein klei­nes Schwe­fel­holz konn­te gut tun! Hät­te sie nur gewagt, eines aus dem Bund zu zie­hen, es an der Wand anzu­strei­chen und die Fin­ger dar­an zu wär­men! Sie zog eines her­aus. „Rit­sch!“ wie das sprüh­te, wie es brann­te! Es war eine war­me kla­re Flam­me wie eine klei­ne Ker­ze, als sie die Hand dar­um hielt; es war ein wun­der­ba­res Licht! Dem klei­nen Mäd­chen schien es, als säße sie vor einem gro­ßen Eisen­ofen mit blan­ken Mes­sing­ku­geln und Mes­sing­trom­mel; das Feu­er brann­te so herr­lich, wärm­te so gut; nein, was war das! – Die Klei­ne streck­te schon die Füße aus, um auch die­se zu wär­men, – da erlosch die Flam­me. Der Ofen ver­schwand, sie saß mit einem klei­nen Stumpf eines abge­brann­ten Schwe­fel­hol­zes in der Hand.

Ein neu­es wur­de ange­steckt, es brann­te, es leuch­te­te, und wie der Schein auf die Mau­er fiel, wur­de sie durch­sich­tig wie ein Schlei­er; sie sah ganz bis in die Stu­be hin­ein, wo der Tisch mit einem schim­mern­den wei­ßen Tuch gedeckt stand mit sei­nem Por­zel­lan, und herr­lich dampf­te die gebra­te­ne Gans, die mit Pflau­men und Äpfeln gefüllt war; und was noch präch­ti­ger war, die Gans sprang von der Schüs­sel, wackel­te über den Boden mit Gabel und Mes­ser im Rücken, ganz hin zu dem armen Mäd­chen kam sie; da erlosch das Schwe­fel­holz, und es war nur die dicke, kal­te Mau­er zu sehen.

Sie zün­de­te ein neu­es an. Da saß sie unter dem herr­lichs­ten Weih­nachts­baum, der war noch grö­ßer und noch mehr geputzt als der, den sie am letz­ten Weih­nachts­abend durch die Glas­tü­re bei dem rei­chen Kauf­mann gese­hen hat­te. Tau­send Lich­te brann­ten an den grü­nen Zwei­gen, und bun­te Bil­der wie die, die die Laden­fens­ter schmück­ten, sahen auf sie her­ab. Die Klei­ne streck­te bei­de Hän­de hoch, – da erlosch das Schwe­fel­holz. Die vie­len Weih­nachts­lich­ter stie­gen höher und höher, sie sah, es waren nur die kla­ren Ster­ne, einer von ihnen fiel und bil­de­te einen lan­gen Feu­er­strei­fen am Himmel.

Nun stirbt da jemand!“ sag­te die Klei­ne, denn die alte Groß­mutter, die die Ein­zi­ge war, die gut zu ihr gewe­sen, aber jetzt tot war, hat­te gesagt: Wenn ein Stern fällt, steigt eine See­le empor zu Gott!

Sie strich wie­der ein Schwe­fel­holz an die Mau­er, es leuch­te­te im Umkreis, und in dem Glanz stand die alte Groß­mutter, so hell, so leuch­tend, so mild und gesegnet.

Groß­mutter!“ rief die Klei­ne, „oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwe­fel­holz aus­geht, fort, wie der war­me Ofen, der herr­li­che Gän­se­bra­ten und der gro­ße, pracht­vol­le Weih­nachts­baum!“ – Und sie strich in Eile den gan­zen Rest Schwe­fel­höl­zer an, die im Bund waren, sie woll­te die Groß­mutter recht fest­hal­ten; und die Schwe­fel­höl­zer leuch­te­ten mit einem sol­chen Glanz, daß es hel­ler war als am lich­ten Tag. Groß­mutter war frü­her nie­mals so schön gewe­sen, so groß; sie hob das klei­ne Mäd­chen auf ihren Arm, und sie flo­gen in Glanz und Freu­de so hoch, so hoch! Und da war kei­ne Käl­te, kein Hun­ger, kei­ne Angst – sie waren bei Gott!

Aber in der Ecke beim Hau­se saß in der kal­ten Mor­gen­stun­de das klei­ne Mäd­chen mit roten Wan­gen, mit einem Lächeln um den Mund – tot, erfro­ren am letz­ten Abend des alten Jah­res. Der Neu­jahrs­mor­gen ging auf über der klei­nen Lei­che, die mit Schwe­fel­höl­zern dasaß, von denen ein Bund fast abge­brannt war. Sie hat sich wär­men wol­len, sag­te man; nie­mand wuß­te, was sie Schö­nes gese­hen, in wel­chem Glanz sie mit der alten Groß­mutter zur Neu­jahrs­freu­de ein­ge­gan­gen war!

Quel­le: Mär­chen von Hans Chris­ti­an Ander­sen, Ber­lin 1910